„Nur irgendein Italiener auf der Flucht

 

Der Philosoph Giordano Bruno (1548-1600) in Tübingen

 

Vor 40 Jahren machte Norbert Georg Hofmann, damals Doktorand im Universitätsarchiv der Uni Tübingen, einen interessanten Fund. Er verglich verschiedene Aufzeichnungen der Uni-Verwaltung aus dem 16. Jahrhundert und konnte so belegen, dass Giordano Bruno, einer der einflußreichsten Denker der Renaissance, auch in Tübingen Station gemacht hatte – eine Episode, von der man bis dahin noch nichts gewußt hatte.

 

Der italienische Philosoph Bruno verbrachte fast sein ganzes Leben auf der Flucht. Geboren in dem kleinen Städtchen Nola bei Neapel, trat der Sohn eines Soldaten mit 17 Jahren in den Dominikanerorden ein. Doch die Unterordnung unter eine Hierarchie war seine Sache nicht: Er kritisierte den katholischen Marienkult und die Heiligenverehrung, vertrat öffentlich immer wieder gefährliche Thesen und las sogar die kirchlicherseits ausdrücklich verbotenen Schriften des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Von den kirchlichen Behörden der Gotteslästerung verdächtigt, blieb ihm keine andere Wahl, als den Orden und schließlich auch Italien Hals über Kopf zu verlassen.

    Das unstete Leben eines Flüchtlings nahm seinen Anfang. Über Lyon ging Bruno nach Genf und von dort nach Paris, wo er die Aufmerksamkeit König Heinrichs III. auf sich zog. Auf dessen Empfehlung kam er in das London Shakespeares und Elisabeths I., damals die Kulturmetropole Europas. In den zwei Jahren, die er dort verbrachte, verfaßte er bedeutende philosophische Schriften, kehrte dann aber wieder auf den Kontinent zurück. In Deutschland gelang es ihm, eine Anstellung an der Universität der Lutherstadt Wittenberg zu bekommen, doch auch dort mußte er wegen religiöser Querelen nach knapp zwei Jahren wieder seinen Hut nehmen. Als Bittsteller besuchte er nun verschiedene Fürstenhöfe und Universitäten in Braunschweig, Mainz, Wiesbaden, Marburg, Helmstedt, Prag – und eben auch in Tübingen.    

Hofmann stieß bei Archiv-Recherchen auf eine geheimnisvolle Notiz im Senatsprotokoll vom 17. November 1588. Der Universitätsnotar Andreas Walch hatte dort vermerkt, „irgendein Italiener“, der „aus religiösen Gründen auf der Flucht“ sei, habe um eine Privatdozentur an der Tübinger Universität gebeten. Für den Namen des Gelehrten ließ der Protokollant vorläufig eine Lücke, die er wohl später noch ausfüllen wollte. Doch dazu kam es nicht mehr, der Fremde blieb für die Nachwelt zunächst anonym.

Die Unileitung stimmte in jener Senatssitzung zwar einer Immatrikulation des Antragstellers zu, doch öffentlich lehren durfte er nicht. Hingegen wurde „das privatim zu docieren bewilligt“, sofern er dafür Termine wähle, „da andere professores nit docieren“. Der Senat beschloß überdies, mit dem Gelehrten „humaniter“ umzugehen, doch zugleich wollte man den zwielichtigen Gast auch dazu bewegen, nicht allzu lange in Tübingen zu bleiben. Die Abreise machte man ihm mit einem kleinen Geldgeschenk schmackhaft: „Da er sich dann vortzuziehen bewilligt, soll ime 4 flo. [Gulden] verehrt werden.“

Einen Beleg für die Auszahlung dieses Betrags entdeckte Hofmann in den Rektoratsrechnungen von 1588/89 und lüftete so auch das Geheimnis der Identität des Flüchtlings. Unter der Rubrik „Auszahlungen ehrenhalber“ verzeichnet das Rechnungsbuch am 24. November 1588 nämlich die Notiz: „Dem Jordanus Brunus, Dr., auf Beschluß des Senats 4 Gulden“. Folglich hat Bruno wohl den dezenten Hinweis der Unileitung verstanden und Tübingen nach einer Woche, mit dem Reisegeld in der Tasche, wieder verlassen.

 Vor allem durch die Wirren der Reformation und Gegenreformation war es an der Tübinger Universität in jener Zeit, wie Hofmann schrieb, zu einer „Phase der Provinzialität“ gekommen. Die meisten der 26 Professoren stammten aus Württemberg, die wenigsten lernten jemals eine andere Universität kennen. Die religiösen Feindseligkeiten, die damals in ganz Europa ausbrachen, führten zu einer gewissen Abschottung nach außen. Internationalisierung? Ein solcher Gedanke mußte der Unileitung des späten 16. Jahrhunderts geradezu absurd vorkommen. So konnten die Tübinger Professoren wohl nicht ermessen, welch brillanten Kopf sie mit Bruno aus ihren Reihen ausschlossen. Vor allem durch seine naturphilosophischen Thesen verhalf Bruno dem wissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit zum Durchbruch. Er vertrat die damals unter Naturforschern noch wenig akzeptierte kopernikanische Theorie, nach der nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum unseres Sonnensystems steht.

Doch nicht nur das. Als einer der ersten Denker versuchte Bruno, die Unendlichkeit des Universums in all ihren Konsequenzen zu Ende zu denken. Bruno wollte rational begründen, wie die Unendlichkeit des Universums im Großen mit einem Aufbau der Materie aus Atomen im Kleinen in Einklang zu bringen ist. Spuren dieser Überlegungen führen direkt zur Infinitesimalrechnung, die nur gut zwei Generationen später von den berühmten Mathematikern Leibniz und Newton begründet wurde. Nicht auszudenken, welche Anregungen ein Astronom wie der glühende Kopernikaner Johannes Kepler, der nur wenige Monate nach Brunos Abstecher nach Tübingen sein Studium an der hiesigen Universität aufnahm, in der Auseinandersetzung mit einem Lehrer wie Bruno gewonnen hätte. Ein wichtiges Kapitel Wissenschaftsgeschichte würde heute womöglich anders lauten.

 Nach der Ablehnung in Tübingen mußte sich Bruno also weiter nach reichen Gönnern umschauen und nahm schließlich 1592 eine Stelle als Hauslehrer bei dem venezianischen Adligen Giovanni Mocenigo an – ein folgenreicher Fehler, wie sich herausstellen sollte. Mocenigo verlor sehr rasch das Interesse an Bruno und lieferte seinen Gast nach wenigen Monaten an die kirchlichen Behörden aus. Nach langen Jahren in Kerkerhaft, unterbrochen nur von Folterungen und Verhören, wurde Bruno schließlich am 17. Februar 1600 auf einem Platz in Rom bei lebendigem Leib öffentlich verbrannt.

 

Quelle: Norbert Georg Hofmann, „Quidam Italus... Die Tübinger Episode des Giordano Bruno“, in: Attempto 41-42 (1971), S. 108-115.