Der niederländische Staatsmann und Dichter Jacob Cats (1577-1660) war ganz wesentlich verantwortlich für die Berühmtheit, die Anna Maria van Schurman bereits in sehr jungen Jahren erreichte. Cats, "Vater Cats", wie ihn die Niederländer nannten, war ein sehr populärer Autor und wurde gerade im einfachen Volk viel gelesen.

   Van Schurman muss Cats um das Jahr 1621, also mit etwa 14 Jahren, persönlich getroffen haben, und aus dieser Begegnung entspann sich eine Korrespondenz. In Reaktion auf dieses Treffen schrieb das junge Mädchen einen Brief an Cats, in dem sie sich für sein Entgegenkommen bedankte. Es sei seine warme Menschlichkeit, schrieb sie darin, der sie es verdanke, dass Sie, ohne auf Ihr Ansehen und Ihre Berühmtheit zu achten, so freundlich waren, nicht nur sich mit mir so freundschaftlich zu treffen, mit mir eingehend zu sprechen und eifrig nach meinen Studien - oder besser gesagt: nach meinen nichtigen Spielerein - zu fragen, sondern auch mir zu prophezeihen, dass ich dadurch noch zu einer gewissen Berühmtheit gelangen werde.

   Van Schurman zögerte auch nicht, ihre literarischen Fähigkeiten, von denen Cats offensichtlich begeistert gewesen sein muss, unter Beweis zu stellen. Sie schrieb ihm ein Gedicht, in dem sie umgekehrt seine künstlerischen Fähigkeiten und Leistungen lobte, und dies tat sie in einer Meisterschaft, die für eine Vierzehnjährige tatsächlich verblüffend ist. Die Dichterin beschreibt darin die Wirkung des Briefes ihres Korrespondenzpartners Cats auf sie selbst mit der Anmut des Gesangs von Vögeln. Kokett gesteht sie ein, dass ihr eigenes Gedicht leider ja "nicht den nötigen Regeln folge", und um zu verdeutlichen, dass sie selbst nicht wie die Vögel fliegen könne, verweist sie auf die mythologischen Figuren des Ikarus und des Phaeton, beides junge Leute, die im jugendlichen Übermut versuchten, vogelgleich zu fliegen und dabei abstürzten.

 

Ich gebe das Gedicht hier im lateinischen Original (nach der Ausgabe der Opuscula von 1652) und in einer freien, eigenen Übersetzung wieder. Deutsche Übersetzungen des Textes liegen bislang nicht vor.

 

Amplissimo Doctissimoque Viro

D. Jacobo Catzio.

 

Ut cygnum resides perhibent intendere voces,

   Cum Zephyri albentes attigit aura sinus;

Utque avis innumeros modulatur gutture cantus

   Mirans laeta novum solis in orbe iubar;

Sic tua torpentem laxavit Epistola venam

   Pectus ubi afflavit suada diserta meum.

Ast minus hinc iustas subeunt mea carmina leges

   Dum sponte innumeros non remoranda ruunt.

Iam feror Icariis ignota per aethera pennis,

   Fidere non tutis viribus ausa meis.

Mox pavidi devexa subit Phaëtontis imago

   Tentans praecipiti carminis ire via.

At meritos virtute tuos mea tangat honores

   Pagina, sit laudis pars quotacunque tuae.

Quis, licet ingentis succumbam pondere molis

   Obruta, non votis annuat ergo meis?

Hic mecum reliquas sistens Hollandia curas,

   Gestiet applausus ingeminasse tibi;

Qualiter exceptus communis Tullius ore

   Cum streperet toto mota corona foro.

Quid ni? hoc ingenium, mores, facundia suadent

   Et fortuna notas reddit ubique pares.

Hic igitur patrio, vel solum gratulor orbi,

   Dum sibi vult plus quam consuluisse tibi;

Nam si tanta premant divinos Munera cantus,

   Quid, damna ut reparet, culmen honoris habet?

Si tot delicias perimant sanctosque furores,

   Pectora quo vatum fonte scatere solent:

Nonne hic vel gemino tibi Munere gratuler aucto.

   Quid vis ingenii par sit utrique tui.

O donata tuis felicibus otia amicis.

   Quae Patriae curis, nec sine laude, vacant.

Hinc mecum Batavae veneratur numina Musae

   Virgineus, studiis aequior ille chorus:

Hinc, cui nota, venus, vel amoeni gratia dicti

   Catziadae tantum fas putat ore loqui,

Huc progressa velut modulis exterrita raucis

   Musa, fatigatos linquit in ore sonos,

Vixque repercussis superat vox ultima chordis;

   O Patriae & Musis, Vir Venerande, Vale.

Dem sehr bedeutenden und gelehrten Mann

Herrn Jacob Cats

 

Wie der Schwan angeblich seinen sonst seltenen Gesang anstimmt,

   wenn der sanfte Westwind sein weißes Gefieder streift,

und wie ein Vogel unzählige Lieder aus seiner Kehle hervorbringt,

   wenn er fröhlich die Strahlen der aufgehenden Sonne erblickt,

so hat Dein Brief das Blut in meinen Adern mit neuem Leben erfüllt,

   als die aufmunternden Worte mein Herz schneller schlagen ließen.

Leider nun folgt mein Gedicht hier nicht den nötigen Regeln,

   sondern sprudelt spontan aus meinem Innersten heraus.

Schon werde ich mit Ikarus’ Schwingen durch unbekannte Lüfte getragen,

   wage es, auf meine nicht zuverlässigen Kräfte zu vertrauen.

Bald schon kommt mir das Bild Phaetons vor Augen, der kreidebleich abstürzt,

   während ich versuche, bei meinem Dichten nicht von der Bahn abzukommen.

Aber mein Papier soll Deine mit Tüchtigkeit verdienten Ehren zeigen,

   sei es auch nur ein Teil – der wievielte auch immer – deines Lobes.

Wer könnte, auch wenn ich unter dem Gewicht dieser riesigen Last

   niedersinke, meinem Anliegen nicht zugeneigt sein?

Hier wird Holland seine übrigen Sorgen fallen lassen und sich

   mit mir freuen, den Applaus für dich vermehrt zu haben;

so wurde auch Tullius [Cicero] allgemein bei einer Rede aufgenommen,

   wenn die Volksmenge auf dem Forum ihm bewegt applaudierte.

Warum nicht? Begabung, Charakter und Redekunst sprechen dafür

   und das Leben bestätigt allenthalben diese Hinweise.

Ich beglückwünsche hier die Heimat, oder schlicht die ganze Welt,

  wo sie doch mehr auf sich als auf dich bedacht war.  

Denn wenn so viele Gaben geradezu göttlichen Gesang erzwingen,

  worin soll da, um den Schaden zu tilgen, die Ehrerbietung gipfeln?

Wenn diese Gaben so viel Genuss und erhabene Verzückung zunichte machen,

   aus deren Quelle Dichterseelen ihre Inspiration zu bekommen pflegen:

 

 

 

 

 

 

 

 

An dieser Stelle angelangt, erschrecke ich vor meinem stümperhaften Werk,

   meine Stimme bleibt mir im Halse stecken,

und als letzten Satz krächze ich leise heraus:

   Lebe wohl, ehrwürdiger Herr, dem Vaterland und der Dichtkunst zum Nutzen.